Geschichte aus der Praxis

Geschichte aus der Praxis


Muss Liebe weh tun?



Mai 22

Muss Liebe weh tun?

Seit vielen Jahren sehne ich mich nach einer Beziehung.
Und jetzt steht er vor mir. Er schaut mir tief in die Augen. Sein Blick hält mich gefangen. Ich muss schlucken und fühle die Verbindung zwischen uns bis in mein Herz. Ich habe mich noch nie so gesehen gefühlt. In mir lösen sich alle Schutzpanzer auf. Ich merke, wie ich weich und offen werde. Und ganz und gar verletzlich. Unsere Seelen berühren sich. Ich weiß, dass er diese Verletzlichkeit nicht ausnutzen wird. Ich bin so was von präsent, mir meiner selbst so bewusst, wie noch nie in meinem Leben. So wollte ich schon immer angeschaut werden. Ich spüre wie mir Tränen über die Wangen laufen.
Vor mir steht ein Pferd. Fuego. „Nur ein Pferd“. Aber ich weiß, dass ich mich auch bei Männern nie wieder mit weniger zufrieden geben werde. Wir stehen uns gegenüber, ca. 50 cm entfernt. Ich berühre ihn nicht und gleichzeitig sind wir vollkommen verbunden.
Diese Nähe, die gleichzeitig absolut sicher ist, die will ich haben.
An diesen Punkt zu kommen war ein langer Weg für mich.

Der Weg meiner Entwicklung

Ich bin Marina, fast 40 Jahre alt und habe so viele heftige Beziehungen hinter mir, dass ich aufgehört habe zu zählen. Ich habe mit ganzer Seele geliebt, habe mich hingeben und geöffnet. Immer und immer wieder. Ich sehne mich nach einem Partner, nach Nähe und Geborgenheit. Mir fällt es nicht schwer, Männer kennenzulernen. Aber irgendwie sind es immer die Falschen. Ich wurde schon so oft verletzt, betrogen, verraten und ausgenutzt. In mir ist eine riesengroße Einsamkeit, die ich kaum aushalte. Ich habe immer wieder die Hoffnung, dass ich nur den Richtigen kennenlernen muss. Den Einen, der mich nicht verletzt, der mir nicht wehtut, wenn ich mich öffne. Ich habe die Hoffnung darauf schon aufgebeben. Nach jeder gescheiterten Beziehung nehme ich mir vor, mich nicht mehr auf solche Männer einzulassen. Aber die Einsamkeit halte ich nie lange aus und schon geht es wieder von vorne los. Vor zwei Monaten ist meine letzte Beziehung gescheitert Danach beschloss ich, etwas zu ändern. Deshalb bin ich heute hier, zum Coaching bei Maike und ihren Pferden.

Die Sehnsucht nach Nähe

Ich darf ich mir ein Pferd aussuchen. Ich entscheide mich für Kjesta, die nette Fjordstute. Fuego, mit seiner Männlichkeit und Präsenz macht mir ein bisschen Angst.
Am Anfang bürste und streichle ich Kjesta. Ich liebe es, durch ihr goldenes Haar zu streicheln. Sie ist so warm und weich. Bei ihr kann ich die Nähe fühlen, nach der ich mich immer so sehne. Kjesta knabbert liebevoll an mir herum. Ich bin überglücklich über diese Vertraulichkeit, diese Verbundenheit. Wir sind uns so nah. Ich schließe die Augen und genieße mein Glück, die Wärme ihres Körpers dicht neben mir. Ohne Vorwarnung dreht Kjesta sich um und rempelt mich unsanft an. Ich muss wegspringen damit sie mich nicht verletzt. Ich stolpere, falle hin.
Ich bin geschockt. Eben war da noch diese Liebe, die Nähe unsere Verbundenheit und plötzlich bin ich bedroht und muss mich schützen. Wieder sitze ich auf den Boden
und hoffe, dass keiner mich sieht. Die in mir aufkommenden Gefühle sind mir nur allzu bekannt, ebenso wie die Fragen, die mir durch den Kopf geistern. Warum hat Kjesta das gemacht? Wir sind doch Freunde? Warum hat sie nicht auf mich geachtet? Ausgerechnet das Pferd bei dem ich mich sicher gefühlt habe.

Verletzt werden, wenn ich Nähe suche

Maike fragt mich, ob ich das kenne.
„Was kenne?“
Ob ich das kenne, dass ich verletzt werde, wenn ich Nähe suche, wenn ich mich einlasse.
Oh ja, das kenne ich. Ich kenne nichts anders.
Ob ich bemerkt habe, dass Kjesta mich kurz vorher angeknabbert hat, fragt Maike weiter.
„Ja klar, das habe ich, da waren wir uns ja noch ganz nah.“ Da hat sie mich noch geliebt.
Ob ich in diesen Moment meine Grenzen gespürt habe?
Grenzen? Was für Grenzen? Ich will doch Nähe spüren. Ich möchte mich nicht abgrenzen und niemanden an mich heranlassen. Nein, ich brauche Nähe.
Maike hakt weiter nach. Ob Kjesta vielleicht an mir rumgeknabbert hat, weil sie mich nicht in meinem Körper gespürt hat? Und ob das eventuell nicht ein Ausdruck von Nähe war, sondern schon etwas übergriffig? Ich soll überlegen, ob ich das aus meinen Beziehungen kenne: dass ich davon ausgehe, dass etwas ein Zeichen von Nähe ist, obwohl es eigentlich schon übergriffig ist. Ich denke nach und breche in Tränen aus. Ja, das kenne ich. Der Übergang von Nähe zum mich-überrannt-fühlen kommt so fließend. Bei meinem letzten Partner musste ich das Wohnungsschloss auswechseln lassen. Er hat mich gestalkt. Obwohl es vorher so schön war. Er hatte mir den Himmel auf Erden versprochen und dann wurde es zur Hölle. Um damit klar zu kommen war ich hier.

Sehnsucht nach Verschmelzung

Maike fragte mich, ob ich in dieser Stunde weiter an dem Thema Grenzen und Nähe arbeiten möchte.
„Ja.“
Wir gehen mit Kjesta auf den Reitplatz. Kjesta ist ganz frei und ich soll mir einen Ort aussuchen, an dem ich einen guten Kontakt zu ihr habe. Ich gehe ganz nah zu ihr, so dass ich ihr Fell berühren kann. Ich streichle ihren Kopf und spüre ihre Samtnase. Ihr Atem berührt meine Finger und ich versuche mich ganz auf ihre Nähe und den Kontakt zu ihr einzulassen. Und -Zack- schon hat sie mich in den Finger gezwickt. Wieder bin ich enttäuscht und verzweifelt, dass meine Nähe und Offenheit ausgenutzt werden. Innerlich beginne ich, wütend auf Maike zu werden. Kann Sie ihr Pferd nicht richtig erziehen?! Immerhin ist es ein Therapiepferd. Das sollte Nähe aushalten können und freundlich zu mir sein.

Absolute Einsamkeit

Maike bleibt von meinen inneren Gefühlen unberührt und gibt mir einfach die nächste Aufgabe. Ich soll mir einen Platz suchen, an dem ich mich sicher fühle. Einen Ort, an dem ich selber für meine Sicherheit sorgen und Kjesta mir nicht weh tun kann. Ich entferne mich ein paar Schritte von der Stute.
„Wie geht es dir dort?“ fragt Maike.
Schrecklich. Ich kann Kjesta nicht mehr fühlen. Ich bin absolut einsam, verlassen. Um das zu erleben, muss ich kein Pferdecoaching buchen, das kenne ich zur Genüge aus meinem Leben. Mit meinen Männern….

Mein Dilemma

Während ich noch dastehe und versuche dieses schreckliche Gefühl zu ignorieren, reflektiert Maike meine Situation: „Wenn du die gewünschte Nähe hast, wirst du verletzt. Wenn du für deine Sicherheit sorgst, bist du einsam.“
So krass und so ehrlich wie Maike und Kjesta mir das gespiegelt haben, lag diese Erkenntnis noch nie vor mir. Geschockt gehe ich alle wichtigen Beziehungen in meinem Leben durch.
Bei meiner Mutter: Ja. Bei meiner Schwester: Ja. In meiner letzten Beziehung: Ja. Mit meinen Arbeitskollegen: Ja
Überall, wirklich überall sind es dieselben Gleichungen:
Nähe = Verletzung
Sicherheit = Einsamkeit

Geschockt stehe ich da. Innerlich erstarrt. Ich sehe keinen Ausweg aus diesem Dilemma.
Maike fragt mich, ob ich lernen möchte, meine eigenen Grenzen zu spüren, mir ihrer bewusst zu werden und sie einfordern zu können, so dass ich Nähe zulassen kann, ohne verletzt zu werden. „Wenn du selber deine eigenen Grenzen nicht spürst, kann sie Kjesta auch nicht spüren und deine Mitmenschen auch nicht. Die rennen dann einfach über dich hinweg.“
Darüber hatte ich noch nie nachgedacht. Und dann schlägt Maike mir auch noch vor, dass es möglich ist, einen guten Kontakt zu jemanden zu haben, ohne ihm körperlich nah zu sein.
Beides sind absolut neue Ideen für mich.
Ich weiß nicht, ob so was geht und erst recht nicht wie. Aber Maike ist sehr sicher, dass das geht und vor allem, dass ich das lernen kann. Also sage ich „Ja, das möchte ich lernen.“

Nähe ohne Verletzung

Und dann über wir. Woche für Woche.
Ich übe, wie ich meine Grenzen spüren kann und wo sie überhaupt liegen. Ich übe, wie ich die Grenzen der Pferde spüren kann. Ich übe, wie ich meine Grenzen einfordern kann, ohne die Beziehung abzubrechen. Wir üben mit allen Pferden auf dem Hof. Mit Kjesta, mit Franz, mit Randl und mir Kira. Jedes Pferd ist anders. Jede Situation ist anders. Ich habe immer Angst, dass die Pferde sich abwenden, wenn ich meinen Raum beanspruche oder meine Bedürfnisse einfordere. Dabei erkenne ich, dass ich früher Angst hatte, verlassen zu werden und deshalb die blödesten Kompromisse eingegangen bin. Ich lerne, nein zu sagen und erfahre, dass die Beziehung nicht abbricht. Ich mache sogar die Erfahrung, dass unsere Beziehungen besser werden, wenn ich „Nein“ sage oder etwas von Kjesta fordere. Das hätte ich nie gedacht. Sie scheint sich zu freuen, ein ernstzunehmendes Gegenüber zu haben.

Verbundenheit trotz Distanz

Und dann habe ich gelernt, meinen eigenen energetischen Raum so zu vergrößern, mich so auszudehnen, dass ich den Kontakt zu einem Pferd halten und es spüren kann, auch wenn es sich einige Meter entfernt. Das geht. Ohne in Einsamkeit zu versinken. Wir sind verbunden, auch wenn wir uns nicht berühren. Und das Wichtigste: ich lerne, dass ich in jedem Moment neu entscheiden kann, wieviel Nähe und Abstand ich haben möchte und das je nach Situation verändern kann.
Dann wage ich mich an Fuego.
Jetzt steht er vor mir. Er schaut mir tief in die Augen. Sein Blick hält mich gefangen. Unsere Seelen berühren sich. Ich weiß, dass er meine Offenheit nicht ausnutzen wird. Ich bin so was von präsent, mir meiner selbst so bewusst wie noch nie in meinem Leben. So wollte ich schon immer angeschaut werden.
Genau so will ich angeschaut werden.

Als nächstes möchte ich das mit Menschen üben.






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